Seit einigen Jahren erlebe ich bei meinen Patient:innen, aber auch im Coaching und an der
Supermarktkasse einen regelrechten Trend: Menschen entdecken Selbstfürsorge. Endlich!
Unsere Leistungsgesellschaft wirft die Schatten schon lange voraus, die Räder können nicht mehr
schneller und auch Selbstoptimierung geht irgendwann an ihre Grenzen.
Dazu ein drängender Individualismus, der es fast nicht erlaubt, NICHT „gut für sich zu sorgen…“.
Leiden und Traurigkeit sind out. Nicht sehenswert – und schön genug für Instagram.
Das umgekehrte Extrem: In der Klinik, ich arbeite mit Menschen mit Posttraumatischer
Belastungsstörung, erleben einige meiner Patient:innen dieses Gefühl tatsächlich zum ersten Mal:
„Ich selbst darf es mir erlauben, dass es schön ist. Dass es mir gut gehen darf…! Und dass ich mir die
Erlaubnis dafür SELBST geben MUSS!“
Die Emotionen, die dieser Erkenntnis wie in einem Schwall folgen, sind intensiv.
Realitäten, die ein Leben lang galten – ungültig. Übernommene Wahrheiten aus der Familie –
plötzlich fragwürdig.
Ein aufwühlender innerer Prozess, der den Weg frei machen kann für liebevolles Loslassen, um in die
Freiheit zu gehen. Die echte innere Freiheit, gut für sich selbst zu sorgen und vielleicht zum ersten
Mal wirklich mit sich in Kontakt zu sein.
Wo beginnt nun das Dilemma?
Was ich auch erlebe: Menschen ziehen ihre Zäune hoch und nennen es genauso.
Mich beschäftigt der Satz einer Seminarteilnehmerin: „Ich muss lernen, mit dem negativen Gefühl zu
leben, wenn ich meiner besten Freundin nicht beim Umzug helfe. Weil ich für mich sorgen muss.“
Natürlich verstehe ich die Intension dahinter und sicher kann es im Kontext stimmig sein. Trotzdem
bleibt bei mir ein schales Gefühl.
Und die Frage, ob nicht Selbstfürsorge auch benutzt wird. Um unangenehme Gefühle zu vermeiden
und nicht aus der eigenen Komfortzone gehen zu müssen. Den nächsten Schritt nicht tun zu müssen,
weil die Füße langsam wehtun.
Ausruhen ist dann wichtig. Aber auch, die Gefühle anzusehen und wirklich zu fühlen, wenn es weh
tut. Eine Weile achtsam genau da zu bleiben, anstatt zu vermeiden. Wirklich bei sich zu sein, in
innigem Selbstmitgefühl mit dem, was dann heilen darf.
Denn genau da findet Wachstum statt. Entwicklung und eine viel größere Freiheit, wie ich meine.
Die Unterscheidung – ein Drahtseilakt. Wenn ich auf dieses Seil gehe, dann mit Achtsamkeit und
einem sehr ehrlichen Herzen mir selbst gegenüber.
Aber der Lohn ist inbegriffen und beginnt schon genau dort – auf meinem Weg.